Bedeutung für Betroffene und Angehörige:

Humangenetische Beratung und Diagnostik bei erblichen Krebserkrankungen

Allgemeines Vorgehen

Die humangenetische Beratung und Diagnostik umfasst viele relevante Bereiche des menschlichen Lebens, z.B. Kinderwunschabklärung, Pränataldiagnostik, angeborene Fehlbildungen und Entwicklungsstörungen, Herzerkrankungen, Bindegewebs-, Muskel- und Nervenerkrankungen, erblich bedingte Stoffwechsel- und Organerkrankungen sowie familiäre Tumorerkrankungen. Eine fachärztliche humangenetische Beratung und entsprechende Untersuchung wird in Österreich an den sechs Zentren für Medizinische Genetik angeboten (Graz, Innsbruck, Salzburg, Linz, Hanusch-Krankenhaus Wien, Medizinische Universität Wien). Eine genetische Beratung steht grundsätzlich jeder und jedem Ratsuchenden zu. Es ist Ziel des Beratungsgesprächs, zu klären, ob überhaupt eine Indikation für eine genetische Untersuchung besteht und welchen Umfang eine Diagnostik einnehmen soll. Hierbei werden die Ratsuchenden bereits vor Einleitung einer Diagnostik über die möglichen Konsequenzen bei einem auffälligen – aber auch unauffälligen – Ergebnis ausführlich informiert. Dieses Vorgehen erfolgt entsprechend § 69 des österreichischen Gentechnikgesetzes (GTG). Eine genetische Analyse des Typs 2, 3 oder 4 (s.u.) darf nur durch vorherige Aufklärung durch eine Fachärztin oder einen Facharzt für Humangenetik oder eine:n für das Indikationsgebiet zuständige:n Fachärztin bzw. Facharzt erfolgen. Das Vorgehen einiger Firmen, die auf kommerzieller Basis eine molekulargenetische Untersuchung auf eine mögliche Erblichkeit (sog. Keimbahnmutationen; s.u.) ohne entsprechende Beratung und Aufklärung anbieten, muss daher sehr kritisch gesehen werden. Nach Abschluss der Laboruntersuchungen werden die erhobenen Befunde und die sich daraus ableitenden Konsequenzen erneut mit den Ratsuchenden diskutiert, die Ergebnisse anschaulich erklärt, in einen medizinischen Kontext eingebettet und in einem ausführlichen Beratungsbrief dokumentiert. Sofern für die Untersuchung eine entsprechende Indikation gestellt werden konnte, erfolgt die Verrechnung der Untersuchungskosten über die Krankenversicherung bzw. über die anfordernde Einrichtung (Klinik). Aufgrund des enormen Wissenszuwachses über die genetischen Grundlagen von Erkrankungen in den letzten Jahren und insbesondere, weil sich zunehmend therapeutische Konsequenzen aus genetischen Befunden ergeben, hat die Nachfrage nach genetischen Untersuchungen in den letzten Jahren überproportional zugenommen, und  dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren weiter fortsetzen. Zurzeit unterscheiden sich in Österreich trotz Zusammenlegung der Krankenversicherungen zur ÖGK die Abrechnungsmodalitäten in den einzelnen Bundesländern sehr. Um bei der wachsenden Nachfrage weiterhin eine entsprechende Qualität humangenetischer Untersuchungen auf internationalem Niveau zu gewährleisten, müssen eine Harmonisierung der Vergütung humangenetischer Leistungen in Österreich und eine Bereitstellung der notwendigen finanziellen Ressourcen angestrebt werden.

Wann ergeben sich Hinweise auf ein erbliches Tumorsyndrom?

Viele Menschen suchen Rat hinsichtlich der Frage, ob sie eine erhöhte Anfälligkeit für Tumorerkrankungen haben könnten. Am Institut für Humangenetik der Medizinischen Universität Graz, der größten humangenetischen Einrichtung in Österreich, waren im Jahr 2022 ca. 1.500 Ambulanzbesuche mit dieser Fragestellung verbunden. Zu den drei wichtigsten klinischen Anzeichen, die auf das Vorhandensein eines potenziell vererbbaren Tumorprädispositionssyndroms aufgrund einer pathogenen Keimbahnvariante hindeuten, gehören die familiäre Häufung von Krebserkrankungen, mehrere Tumoren bei ein und derselben Person oder das Auftreten von Krebs in jungen Jahren.

Erbliche Tumorsyndrome vs. sporadische Tumorentstehung

Das menschliche Erbgut besteht aus rund 20.000 proteinkodierenden Genen (Nurk et al., 2022). Wenn Mutationen in sogenannten Tumorgenen auftreten, kann Krebs entstehen. Laut der COSMIC-Datenbank sind derzeit 690 Tumorgene bekannt, wovon 360 Tumorsuppressorgene sind, die also per se einen schützenden „Bauplan“ darstellen. Keimbahnvarianten (alle Zellen im Körper sind von der Mutation betroffen) in Tumorsuppressorgenen sind mit erb­lichen Tumorprädispositionssyndromen – also einer stark erhöhten Anfälligkeit für die Entstehung bestimmter Tumorarten – assoziiert. Der Großteil der Tumorerkrankungen entsteht allerdings sporadisch, also zufällig, meist in höherem Alter. Die zugrunde liegenden somatischen Mutationen treten erst im Laufe des Lebens auf und können durch endogene (z.B. reaktive freie Radikale), exogene (z.B. Tabak, UV-Licht) oder zelleigene (z.B. gestörte DNA-Reparatur, Aktivität von Viren) Prozesse entstehen (Tomasetti et al., 2015). Diese somatischen Veränderungen sind nicht erblich, weil sie nur in Körperzellen und nicht in der Keimbahn vorkommen.

Untersuchungsumfang und -techniken

Die molekulargenetische Untersuchungsstrategie besteht einerseits in der Sequenzanalyse der bekannten Tumorprädispositionsgene, also dem „Korrekturlesen“ einzelner Basen im Erbgut, und andererseits im Nachweis etwaiger Kopienzahlveränderungen (Zugewinne oder Verluste größerer genomischer Bereiche). Im Zuge der routinediagnostischen Abklärung wird – insbesondere bei Screeninguntersuchungen – seit mehreren Jahren das sog. „Next Generation Sequencing“ (NGS) verwendet. Mit dieser Technik ist es möglich, zahlreiche Gene pa­rallel zu untersuchen und bioinformatisch auszuwerten. Dies ist vor allem deshalb von Vorteil, da Mutationen in mehreren Genen zur gleichen Tumorprädisposition führen können und viele Tumorsyndrome klinisch nicht eindeutig voneinander abgrenzbar sind. Somit bedarf es auch einer ausgeprägten differenzialdiagnostischen Expertise bei der Auswahl der zu analysierenden Gene. Prinzipiell wird der Schwerpunkt der Auswertung auf jene Gene gelegt, die mit den eigen- und familienanamnestischen Angaben assoziiert sind. Das Institut für Humangenetik der Medizinischen Universität Graz bietet genetische Untersuchungen für alle bekannten Tumorprädispositionssyndrome an und adaptiert den Untersuchungsumfang regelmäßig aufgrund neuester Erkenntnisse. Der aktuelle Untersuchungsauftrag ist auf der Homepage abgebildet (https://humangenetik.medunigraz.at; Stand Jänner 2023).

Vererbungsmodus

Erbliche Tumorprädispositionssyndrome unterliegen meist einem sogenannten autosomal-dominanten Erbgang. Autosomal bedeutet, dass das risikoassoziierte Gen nicht auf einem der Geschlechtschromosomen (X bzw. Y) liegt und somit an weibliche und männliche Nachkommen mit demselben Risiko vererbt wird. Dominant bedeutet, dass eine veränderte Kopie des Gens ausreicht, die entweder vom Vater oder von der Mutter vererbt wurde, um damit zur Erhöhung des Tumorrisikos zu führen. Das Risiko für jedes Kind einer bzw. eines Betroffenen, die für die erhöhte Tumorneigung verantwortliche Erbanlage zu erhalten, beträgt 50%. Die Anlage für ein erbliches Tumorsyndrom kann allerdings auch neu (de novo) aufgetreten sein, also nicht von einem der Elternteile vererbt worden sein.

Molekulargenetische Untersuchungsergebnisse

Prinzipiell können sich drei mögliche Untersuchungsergebnisse ergeben.

  1. Nachweis einer „pathogenen ­Variante“: In diesem Fall wird eine Variante nachgewiesen, die mit einem erhöhten Risiko für bestimmte Tumorerkrankungen verbunden ist. Für die betroffene Person selbst ergeben sich daraus in der Regel Empfehlungen für Therapie und Vorsorge, die von klinisch tätigen Kolleg:innen eingeleitet werden können. In diesem Fall können weitere Familienmitglieder gezielt auf diese Veränderung untersucht werden, um ihr Risiko für Tumorerkrankungen zu bestimmen (prädiktive Testung).
  2. Erhebung eines unauffälligen Befundes: Es wird keine pathogene Variante gefunden, das heißt, für die untersuchten Gene ist kein Zusammenhang mit der Tumorerkrankung nachweisbar. In bestimmten Fällen kann eine Erweiterung der Untersuchung angeboten werden.
  3. In manchen Fällen kann eine sog. „Variante unklarer Signifikanz“ (VUS) in einem oder mehreren Genen nachgewiesen werden. VUS sind Varianten im Erbgut, die in der Bevölkerung meist selten vorkommen und die nicht eindeutig als krankheitsverursachend eingestuft werden können, wobei andererseits ein Zusammenhang zur Erkrankung nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Es wird empfohlen, sich in etwa zwei Jahren zu erkundigen, ob sich die Beurteilung der Variante(n) geändert hat.

Dokumentation genetischer Befunde

Gemäß § 65 GTG werden verschiedene Analysetypen unterschieden. Typ 1 dient der Feststellung einer bestehenden Erkrankung, der Vorbereitung einer Therapie oder Kontrolle eines Therapieverlaufs und basiert auf Aussagen zu somatischen Veränderungen. Während sich also Typ-1-Untersuchungen nur auf somatische Veränderungen beziehen, die nicht weitervererbt werden, werden Untersuchungen der Keimbahn in Untersuchungen von Typ 2, 3 und 4 unterteilt. Typ 2 dient der Feststellung bzw. Abklärung einer bestehenden Erkrankung, Typ 3 und Typ 4 der Feststellung eines Erkrankungsrisikos oder eines Überträgerstatus. Typ 3 bezieht sich hierbei auf die Feststellung einer Prädisposition für eine möglicherweise zukünftig ausbrechende, genetisch bedingte Erkrankung oder auf die Feststellung eines Überträgerstatus, für welche nach dem Stand von Wissenschaft und Technik Prophylaxe und Therapie möglich sind. Als Typ 4 wird die Prädisposition für eine Erkrankung verstanden, die nicht vorbeugbar oder therapierbar ist. Ergebnisse des Typs 1 dürfen in jedem Fall, Ergebnisse aus genetischen Analysen von Typ 2 und 3 nur, sofern die Betroffenen dem nicht schriftlich widersprochen haben, in Arztbriefen und Krankengeschichten dokumentiert werden. Auf die Möglichkeit des Widerspruchs ist in der humangenetischen Beratung hinzuweisen (GTG § 71a und § 69 Abs. 3). Hinsichtlich genetischer Befunde aus Analysen von Typ 2 und Typ 3 ist eine Dokumentation in Arztbriefen und Krankengeschichten meist sinnvoll, um eine optimale Behandlung sicherzustellen. Ergebnisse aus einer Analyse von Typ 4 dürfen nicht in Arztbriefen und Krankengeschichten dokumentiert werden und dürfen nur in der Einrichtung, in der sie erhoben wurden, und nur auf Veranlassung der bzw. des behandelnden Ärztin/Arztes verarbeitet werden; die Daten sind gesondert aufzubewahren und unterliegen gesonderten Zugriffsberechtigungen (GTG § 71a).

Konsequenzen bei auffälligen Untersuchungsergebnissen

Klinische Vorsorgeempfehlungen bestehen bereits bei relevanten Tumorsyndromen – siehe NCCN(National Comprehensive Cancer Network)-Richtlinien, Deutsches Konsortium für erblichen Brust- und Eierstockkrebs, ESMO Clinical Practice Guidelines: Hereditary Syndromes (www.esmo.org/guidelines/hereditary-syndromes). Für verschiedene Tumorsyndrome kann die Durchführung von vorsorglichen Operationen zur Verminderung des Krebsrisikos diskutiert und angeboten werden. Etabliert und bekannt ist die Möglichkeit der prophylaktischen Operation der Brustdrüsen und Eileiter/Eierstöcke bei Keimbahnmutation in den Genen BRCA1 und BRCA2. Hintergrund ist das erhöhte Risiko, ein Mammakarzinom in der zweiten, gesunden Brust zu entwickeln, bzw. die limitierte Früherkennung eines Eileiter- und Eierstockkrebses (Kuchenbaecker et al., 2017). Darüber hinaus kann der Nachweis von Keimbahnmutationen auch Auswirkungen auf die Wahl der Therapien haben. Patient:innen mit einer Mutation in den Genen BRCA1 oder BRCA2 profitieren von PARP-Inhibitoren bei Brust- oder Eierstockkrebs bzw. bei metastasierten Tumoren der Prostata und der Bauchspeicheldrüse (Hussain et al., 2020; Kindler et al., 2023; Ledermann et al., 2014; Pilié et al., 2019; Tutt et al., 2021).

Ausblick

In den vergangenen Jahren hat sich die humangenetische Beratung und Dia­gnostik bei erblichen Krebserkrankungen zu einem integralen Teil der Betreuung von Betroffenen und ihren Angehörigen entwickelt. Durch stetige Neuerungen, vor allem im Sequenzierbereich, können umfassende Untersuchungen schnell und kostengünstig angeboten und durchgeführt werden. Konsequenzen im Fall des Nach­weises einer Keimbahnmutation beinhalten nicht nur die Aufnahme in definierte Vorsorgeprogramme, sondern insbesondere auch maßgeschneiderte Therapieempfehlungen in Abhängigkeit von der Mutation. Dies erfordert ein hohes Maß an interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen Humangenetik und Klinik. Zu diesem Zweck wurden an fast allen sechs humangenetischen Standorten in Österreich interdisziplinäre Sprechstunden eingerichtet, die dem Wissensaustausch dienen, die Effizienz der Patientenbetreuung maßgeblich verbessern und bei den Patient:innen eine hohe Akzeptanz haben, weil sie in einem Gespräch die unterschiedlichen Aspekte zu ihrer Erkrankung von den verschiedenen Fachdisziplinen erfahren. Zukünftige Entwicklungen werden die Ausweitung der Diagnostik auf „Whole Genome Sequencing“ (WGS) beinhalten, wodurch voraussichtlich Tumorprädispositionen aufgeklärt werden können, die mit dem derzeitigen Methodenspektrum noch nicht erfasst werden. Die anfallenden, immer größer werdenden Datenmengen stellen für die humangenetischen Institute eine Herausforderung dar und erfordern die Integration von Bioinformatiker:innen in die Dateninterpretation, den Aufbau entsprechender IT-Infrastrukturen und sämtliche Maßnahmen zur Datensicherung. Außerdem beteiligen sich Humangenetiker:innen bereits jetzt an molekularen Tumorboards (MTBs), um interdisziplinär Kolleg:innen in Onkologie und Pathologie bei der Varianteninterpretation zu unterstützen und dabei zu helfen, Disziplinen, die auch unter „Molekulare Medizin“ zusammengefasst werden, aufzubauen. Damit steigen die Komplexität und die Aufgaben des Faches Humangenetik stetig und gehen mittlerweile weit über die traditionellen Bereiche Pränataldiagnostik und Syndromologie hinaus. Kein anderes medizinisches Fach setzt sich in ähnlicher Intensität wie die Humangenetik mit dem komplexen menschlichen Genom auseinander. Da die Integration genetischer Daten viele Bereiche der Medizin grundlegend verändern wird, sind interdisziplinär ausgerichtete humangenetische Institute mit einem umfassenden Angebot für alle klinischen Fragestellungen notwendig, um den hohen Standard in der Medizin in Österreich langfristig zu sichern.

Jochen Geigl, Michael Speicher, Ellen Heitzer

Literatur:

  • Hussain M, Mateo J, Fizazi K et al., Survival with olaparib in metastatic castration-resistant prostate cancer. N Engl J Med 2020; 383(24):2345–57; doi: 10.1056/NEJMoa2022485
  • Kindler HL, Yoo HK, Hettle R et al., Patient-centered outcomes in the POLO Study of active maintenanceolaparib for germline BRCA-mutated metastatic pancreatic cancer. Cancer 2023;10.1002/cncr.34610; doi10.1002/cncr.34610 [published online ahead of print, 2023 Feb 22]
  • Kuchenbaecker KB, Hopper JL, Barnes DR et al., Risks of breast, ovarian, and contralateral breast cancer for BRCA1 and BRCA2 mutation carriers. JAMA 2017; 317(23):2402–16; doi: 10.1001/jama.2017.7112
  • Ledermann J, Harter P, Gourley C et al., Olaparib maintenance therapy in patients with platinum-sensitive relapsed serous ovarian cancer: a preplanned retrospective analysis of outcomes by BRCA status in a randomised phase 2 trial. Lancet Oncol 2014; 15(8):852–61; doi: 10.1016/S1470-2045(14)70228-1 [published correction appears in Lancet Onco 2015 Apr; 16(4):e158]
  • Nurk S, Koren S, Rhie A et al., The complete sequence of a human genome. Science 2022; 376(6588):44–53; doi:10.1126/science.abj6987
  • Pilié PG, Tang C, Mills GB, Yap TA. State-of-the-art strategies for targeting the DNA damage response in cancer. Nat Rev Clin Oncol 2019; 16(2):81–104; doi: 10.1038/s41571-018-0114-z
  • Tomasetti C, Marchionni L, Nowak MA et al., Only three driver gene mutations are required for the development of lung and colorectal cancers. Proc Natl Acad Sci USA 2015; 112(1):118–23; doi: 10.1073/pnas.1421839112
  • Tutt ANJ, Garber JE, Kaufman B et al., Adjuvant olaparib for patients with BRCA1- or BRCA2-mutated breast cancer. N Engl J Med 2021; 384(25):2394–405; doi: 10.1056/NEJMoa2105215