So valide sind Prognosen zu Krebsneuerkrankungen in Österreich

Der demografische Wandel der österreichischen Bevölkerung, der Fortschritt in der Behandlung von Krebserkrankungen, die Implementierung von Vorsorgeuntersuchungen und Impfungen gegen Krebs sind Beispiele für Faktoren, die einen relevanten Einfluss auf die An­zahl der Krebsneuerkrankungen (Krebsinzidenz) bzw. die Zahl der krebsbedingten Sterbefälle (Krebsmortalität) haben.
Eine valide Prognose der jährlichen Neuerkrankungen und der jährlichen Todesfälle aufgrund bösartiger Tumoren ist daher für die Planung im Gesundheitswesen essenziell. Die absolute Zahl der zukünftigen Erkrankungs- und Sterbefälle ist dabei genauso notwendig wie die Prognose von Erkrankungs- und Sterberaten. Nur so kann der Einsatz der Ressourcen für Screening, Diagnose, Therapie und Palliativmedizin optimiert werden. Darüber hinaus bietet die Prognose einen Ausgangspunkt zur Beurteilung des Erfolges von zukünftigen Interventionen.1
Statistik Austria wurde 2013 vom Bundesministerium für Gesundheit beauftragt, eine Prognose der Neuerkrankungen und Todesfälle aufgrund bösartiger Tumoren bis zum Jahr 2030 zu erstellen. Da nun Daten zu den Neuerkrankungen bis zum Jahr 2020 vorliegen, ist es besonders spannend, die beobachteten Daten den Prognoseergebnissen von 2013 gegenüberzustellen. Nach erläuternden Einführungen zur Erstellung von epidemiologischen Prognosen wird in diesem Artikel die Prognose der Neuerkrankungen in absoluten Zahlen anhand von zwei häufigen Tumorerkrankungen – Darmkrebs und Lungenkrebs – dargestellt.

Qualität von Prognosen

Demografische Prognosen quantifizieren die möglichen zukünftigen Auswirkungen bestehender Strukturen und beobachtbarer Trends auf die Bevölkerungsentwicklung. Die Prognosen 
stellen jedoch keine exakten „Vorhersagen“ dar. Vielmehr handelt es sich um „Wenn-dann-Rechnungen“, welche die Bandbreite der möglichen demografischen Entwicklungen unter bestimmten zugrunde liegenden Annahmen darstellen. Die Übereinstimmung der Prognoseergebnisse mit den später beobachteten Daten kann als Eintreffen dieser Annahmen gesehen werden. Die Nichtübereinstimmung ist jedoch nicht zwangsläufig ein Versagen der Prognose. Prognosen werden auch erstellt, um andersartige Trends (Abweichungen) frühzeitig zu erkennen und gegensteuern zu können bzw. um bewusst gegenzusteuern, damit die prognostizierte Entwicklung nicht eintritt.

Einflussfaktoren auf die Entwicklung der Krebsneuerkrankungen –  Annahmefindung und Prognosevarianten

Die zukünftige Entwicklung der Anzahl von Erkrankungs- und Sterbefällen basiert im Wesentlichen auf zwei Komponenten, die sich im Zeitverlauf verändern (können): die Entwicklung der Größe und der Altersstruktur der Bevölkerung (demografische Entwicklung) und die Entwicklung des Erkrankungsrisikos (In­zidenzrate) bzw. des Sterberisikos (Mortalitätsrate).
Die Vorhersage der demografischen Entwicklung ist komplex: Um die Unsicherheit der zukünftigen Entwicklung besser abschätzen zu können, wird die Bevölkerungsprognose in mehreren Varianten bzw. Szenarien erstellt. Dazu wird für Fertilität, Mortalität und Migration neben der mittleren Annahme auch eine hohe und eine niedrige Annahme entwickelt, die dann jeweils zu unterschiedlichen Varianten (Szenarien) zusammengesetzt werden. Die mittlere Variante (Hauptvariante) wird von Statistik Austria als der wahrscheinlichste künftige Entwicklungspfad angesehen. Sie steht bei der Publikation und Interpretation der Ergebnisse im Vordergrund und wurde auch für die Prognose der Krebsinzidenz verwendet. So wird beispielsweise die Zahl der Menschen im Alter von 65 und mehr Jahren zwischen 2021 und 2030 um etwa ein Viertel steigen. Nachdem das Risiko, an Krebs zu erkranken, mit dem Alter zunimmt, ist eine entsprechende Zunahme an Krebsneuerkrankungen zu erwarten.

Derzeit werden neben der Hauptvariante acht weitere Varianten und zwei Szenarien gerechnet, die unterschiedliche Annahmen zu Fertilität, Mortalität und Migration kombinieren.2

Bevölkerung nach breiten Altersgruppen

 

Abb. 1: Historische sowie prognostizierte Bevölkerungsstruktur für Österreich der Jahre 1950-2080, Hauptvariante

Quelle: Statistik Austria, Bevölkerungsprognose 2022 (gerundete Ergebnisse)

Vorausberechnete Bevölkerungsstruktur für Österreich 2021–2030 laut Hauptvariante

Quelle: Statistik Austria, Bevölkerungsprognose 2022 (gerundete Ergebnisse)

Inzidenzraten – Konstante Variante und Trendvariante

Für die Prognose der Krebsinzidenz wurde die Hauptvariante (mittlere Variante) der Bevölkerungsprognose verwendet und mit dem Erkrankungsrisiko (Inzidenzraten) verknüpft. Die vorliegende Prognose der Inzidenz wurde in zwei Varianten erstellt, nämlich in der konstanten Variante und der Trendvariante.
Während die konstante Variante die Inzidenzraten über den gesamten Projektionszeitraum bis zum Jahr 2030 auf dem Niveau des Durchschnitts der Jahre 2008–2010 konstant hielt und somit nur den Einfluss der Bevölkerungsentwicklung abbildet, schreibt die Trendvariante die rezenten Trends in den alters- und geschlechtsspezifischen Neuerkrankungsraten in die Zukunft fort. Bei der Trendvariante wurden die bis 2009 beobachteten Entwicklungen in die Zukunft fortgeschrieben. Als frühestmögliches Anfangsjahr der Daten kann 1983 spezifiziert werden. Dies ist jedoch nicht unbedingt das optimale Anfangsjahr, weil sich im Zeitraum 1983–2009 Strukturbrüche ereignet haben können. Andererseits sollte das Anfangsjahr auch nicht zu spät gewählt werden, weil sonst die Datenbasis sehr klein würde und die geschätzten Parameter dann mit hoher statistischer Unsicherheit behaftet wären. Um einen Kompromiss zwischen Validität und Reliabilität zu finden, wurde zunächst festgelegt, dass die sogenannte „Stützperiode der Prognose“, aus der der Trend abgeleitet wird, zumindest zehn Kalenderjahre umfassen muss, das Anfangsjahr also spätestens 2000 sein kann. Aus dem Pool an möglichen Anfangsjahren (1983–2000) wurde sodann jenes gewählt, welches bei einer visuellen Inspektion der Zeitreihe der totalen Inzidenzrate am ehesten den Beginn des gegenwärtig gültigen Trends zu repräsentieren schien. Wenn sich kein derartiges Jahr eruieren ließ, wurde 1983 als Anfangsjahr gewählt.
Die konstante Variante misst somit nur den rein demografischen Einfluss auf die künftige Entwicklung der Neuerkrankungen und Sterbefälle an Krebs. Im Vergleich mit der Trendvariante können daher externe Faktoren der künftigen Entwicklung der einzelnen Tumorerkrankungen extrahiert werden, welche sich durch medizinischen Fortschritt, Verbesserungen in der Prävention und Vorsorge, aber auch im Risikoverhalten der Bevölkerung (z.B. steigende Rauchgewohnheiten von Frauen) ergeben.

Methode

Die Verknüpfung der Durchschnittsraten der Jahre 2008–2010 bzw. der Extrapolationen des Trends mit der mittleren Variante der aktuellen Bevölkerungsprognose ergibt die künftige Zahl von Neuerkrankungen und Sterbefällen an den jeweiligen Entitäten. Dabei wird mit einem „Bottom-up-Ansatz“ gearbeitet. Dies bedeutet, dass alle Ergebnisse von der kleinsten Recheneinheit aus aggregiert werden. Die kleinsten Recheneinheiten sind pro Krebslokalisation alters- und geschlechtsspezifische Inzidenzen in den einzelnen Bundesländern. Aggregiert über das Alter ergibt dies für jedes Bundesland die entsprechenden Werte pro Geschlecht. Die Summe aus den Neuerkrankungen ergibt die jeweilige Gesamtzahl für das Bundesland. Das Österreich-Ergebnis wird schließlich aus der Summe der neun Bundesländer gebildet.
Gegenüber einem „Top-down-Ansatz“, bei dem von einer Gesamtentwicklung auf die einzelnen Regionen und Entitäten heruntergebrochen wird, hat die gewählte Vorgehensweise den Vorteil, dass den regionalen Unterschieden sowie den rezenten Entwicklungen bei den einzelnen Krebslokalisationen besser Rechnung getragen werden kann.

Prognose und Entwicklung der Neuerkrankungen an Darmkrebs

Darmkrebs umfasst bösartige Neubildungen des Dick- und des Enddarms (ICD-10: C18–C21) und liegt, bezogen auf die absolute Anzahl an Krebsneuerkrankungen, bei Frauen und Männern nach Brust- bzw. Prostatakrebs und Lungenkrebs an dritter Stelle. Im Jahr 2020 waren etwa 4.400 Personen (2.500 Männer und 1.900 Frauen) erstmalig mit der Diagnose Darmkrebs konfrontiert.
In der konstanten Variante der Prognose wären im Jahr 2020 etwa 5.700 Neudiagosen zu erwarten gewesen (3.300 Männer und 2.400 Frauen). Diese Zahlen basieren auf dem durchschnittlichen Erkrankungsrisiko von 2008–2010 und der prognostizierten Entwicklung der Bevölkerung. Die zugrunde liegende Bevölkerungsprognose (2012–2060, Jahresdurchschnittsbevölkerung) hat die Gesamtzahl der Personen um etwa 200.000 im Jahr 2020 unterschätzt. Es wurde vor allem die Zuwanderung, die durch die Fluchtbewegung 2015/2016 ausgelöst wurde, aber auch die Zuwanderung aus (Süd-)Osteuropa unterschätzt. Die Altersgruppe der Personen von 65 Jahren und älter wurde allerdings im Vergleich zu den beobachteten Zahlen um etwa 6.000 überschätzt. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich diese Unschärfe nicht wesentlich auf die Zahl der prognostizierten Neuerkrankungen auswirkt und der Unterschied somit hauptsächlich auf externe Faktoren zurückzuführen ist (wie z.B. medizinischer Fortschritt, Verbesserungen in Prävention, Vorsorge und Risikoverhalten).
Die Trendvariante prognostizierte für 2020 knapp über 4.800 Neudiagnosen (etwas über 2.900 Männer und rund 1.900 Frauen). Diese niedrigeren Werte kamen durch die Berücksichtigung des Trends der vorangegangenen Jahre zustande. Dass die beobachteten Zahlen (4.400) sogar unter den Werten der Trendvariante liegen, bedeutet, dass der Rückgang im Beobachtungszeitraum (2010–2020) größer war als in der Stützperiode.
Dieses Ergebnis gilt für beide Geschlechter zusammen. Die Entwicklung der Anzahl der Neuerkrankungen bei Frauen bildet ziemlich genau die Prognoseergebnisse ab. Interessant ist, dass bei Männern die beobachteten Werte für 2020 um etwa 15% unter den aufgrund der Prognose in der Trendvariante erwarteten Werte liegen (beobachtet rund 2.500, Trendvariante etwas über 2.900 Neuerkrankungen im Jahr 2020). Darüber hinaus fällt auf, dass die Trends der beobachteten Werte der letzten zehn Jahre für Männer und Frauen nun nahezu parallel verlaufen und Männer damit von derselben Risikoreduktion profitieren wie Frauen (Abb. 2). Betrachtet man die 
altersstandardisierten Raten, die das Risiko besser abbilden als die absoluten Zahlen, da bei altersstandardisierten Raten Veränderungen der Altersstruktur der Bevölkerung rechnerisch ausgeschaltet wurden, sieht man bei Männern sogar eine noch stärkere Abnahme des Erkrankungsrisikos im Vergleich zu Frauen.

Entwicklung der Neuerkrankungen an Darmkrebs in Österreich

 

Abb. 2: Darmkrebs nach ICD-10: C18-C21

Quelle: Statistik Austria, Österreichisches Krebsregister (Stand 17.01.2023) und Todesursachenstatistik sowie Statistik Austria „Trends der Entwicklung von Krebserkrankungen in Österreich - Eine Prognose bis 2030“ (02.2015)

Prognose und Entwicklung der Neuerkrankungen an Lungenkrebs

Lungenkrebs umfasst bösartige Neubildungen der Luftröhre und der Lunge (ICD-10: C33–C34), wobei der Anteil an Krebs in der Luftröhre sehr gering ist (durchschnittlich 5 Fälle pro Jahr). Bezogen auf die absolute Anzahl an Krebsneuerkrankungen liegt Lungenkrebs bei Frauen und Männern nach Brust- bzw. Prostatakrebs an zweiter Stelle. Im Jahr 2020 waren etwa 4.800 Personen (2.800 Männer und 2.000 Frauen) erstmalig mit der Diagnose Lungenkrebs konfrontiert.
In der konstanten Variante der Prognose wären im Jahr 2020 etwa 5.200 Neudiagosen zu erwarten gewesen (etwas über 3.400 Männer und etwas unter 1.800 Frauen). Diese Zahlen basieren auf dem durchschnittlichen Erkrankungsrisiko von 2008–2010 und der prognostizierten Entwicklung der Bevölkerung. Auffällig ist, dass die absolute Anzahl der beobachteten Neuerkrankungen bei Männern deutlich unter und bei Frauen etwas über dem prognostizierten Wert der konstanten Va­riante liegt. Betrachtet man die Zahlen im Vergleich zur Trendvariante, wird auch klar, warum das so ist.
Die Trendvariante prognostizierte für 2020 knapp über 5.200 Neudiagnosen (etwas über 2.900 Männer und rund 2.300 Frauen), und damit liegt der Wert für beide Geschlechter zusammen sehr nahe am Prognosewert der konstanten Variante. Bei getrennter Betrachtung der Geschlechter unterscheiden sich die beiden Prognosevarianten allerdings stark.

Entwicklung der Neuerkrankungen an Lungenkrebs in Österreich

 

Abb. 3: Lungenkrebs nach ICD-10: C33-C34

Quelle: Statistik Austria, Österreichisches Krebsregister (Stand 17.01.2023) und Todesursachenstatistik sowie Statistik Austria „Trends der Entwicklung von Krebserkrankungen in Österreich - Eine Prognose bis 2030“ (02.2015)

Lungenkrebs bei Männern  weiterhin rückläufig

Für Männer wurden nach der konstanten Variante für das Jahr 2020 deutlich mehr Erkrankungsfälle prognostiziert als nach der Trendvariante (3.400 bzw. 2.900), der beobachtete Wert (2.800) lag noch unter dem Wert der Trendvariante. In der Zeitreihe der absoluten Zahlen und insbesondere in jener der altersstandardisierten Raten sieht man einen deutlichen Rückgang des Erkrankungsrisikos. Dieser Rückgang im Beobachtungszeitraum (2010–2020) war sogar noch größer als in der Stützperiode.

Lungenkrebs bei Frauen stabil

Für Frauen wurden nach der konstanten Variante für das Jahr 2020 deutlich weniger Neuerkrankungsfälle prognostiziert als nach der Trendvariante (1.800 bzw. 2.300), der beobachtete Wert lag dazwischen (2.000). Das Erkrankungsrisiko für Frauen steigt demnach weiterhin, da mehr Frauen erkrankten, als aufgrund der demografischen Entwicklung zu erwarten gewesen wäre. Es stieg allerdings nicht so stark an, wie es bei einer Fortschreibung des Trends der Stützperiode erwartet worden wäre. Betrachtet man den Zeitverlauf der tatsächlichen Anzahl der Neuerkrankungen, sieht man von 2016–2020 eine relativ stabile Phase und im Zeitverlauf der altersstandardisierten Raten sogar ein sinkendes Risiko. Ob das Erkrankungsrisiko bei Frauen tatsächlich längerfristig zurückgeht, wird man erst in einigen Jahren mit einer gewissen Sicherheit sagen können.

Monika Hackl, Pauline Pohl, Ansgar Weltermann, Florian Trauner, Armin Gerger

 

1 Bray F, Møller B. Predicting the future burden of cancer. Nat Rev Cancer 2006 Jan; 6(1):63–74. PMID: 16372017; doi: 10.1038/nrc1781
2 Hanika A, Pohl P, Slepecki P (2023): Zukünftige Bevölkerungsentwicklung Österreichs und der Bundesländer 2022 bis 2080 (2100) – Prognosegeneration 2022. Statistische Nachrichten 01, S. 12–31