Wenn die Lust an der Lust verloren geht

Werden Anblick, Verkehr und Umgang miteinander genommen, so löst sich die erotische Leidenschaft auf. – Epikur von Samos (341–270 v. Chr.), griechischer Philosoph

Ein oft übersehener unerwünschter Effekt einer Krebserkrankung und -behandlung ist die Beeinträchtigung der Sexualität. Dieses Problem ist auch deshalb zentral, weil es häufig nicht berücksichtigt wird, sich aber auf die Lebensqualität und damit die psychosoziale Situation von Krebspatient:innen stark auswirken kann. Es ist bekannt, dass eine Mehrheit der Krebspatient:innen unter Beeinträchtigungen der Sexualität leidet, aber nur eine Minderheit jemals nach ihrer sexuellen Gesundheit gefragt wird. Dies ist bei Frauen noch seltener der Fall als bei Männern, bei denen zumindest im Fall einer Prostatakrebsbehandlung häufig über sexuelle Funktionsstörungen aufgeklärt wird.1

Wenn der Körper zu einem „Ort der Krankheit“ wird

Oft kommt es durch operative Eingriffe nach der Diagnose Krebs zu einer veränderten Körperwahrnehmung. Das betrifft nicht nur Patient:innen mit Operationen an der Brust, gynäkologischen oder urologischen Organen, sondern wird auch von vielen Patient:innen mit anderen Krebserkrankungen wie Darmkrebs, Hautkrebs oder Blutkrebs berichtet.1 Gynäkologische und urologische Eingriffe können zudem oft körperliche Probleme wie Schmerzen beim Geschlechtsverkehr oder Impotenz zur Folge haben. Auch durch Medikamente wird der Körper unangenehmen, aber therapeutisch notwendigen Belastungen ausgesetzt, die bewältigt werden müssen. Sowohl Chemo- als auch Hormontherapien können Symptome wie Hitzewallungen, Stimmungsschwankungen, Schlaflosigkeit und Müdigkeit hervorrufen und zu urogenitalen Beschwerden wie vaginaler Trockenheit führen.

Auch die Psyche ist betroffen

Neben den körperlichen Faktoren spielen psychische und soziale Faktoren für die beeinträchtigte Sexualität eine wichtige Rolle. Viele, vor allem weibliche Patient:innen leiden unter dem veränderten Körperbild (Operationsnarben, Haarverlust etc.), männliche Patienten mehr unter dem Verlust von Kraft und Körperenergie. Dazu kommt die ständig präsente Angst vor einem Wiederauftreten oder Fortschreiten der Erkrankung und dem möglichen Tod. Oft macht auch eine krankheitsbedingte und unbehandelte depressive Reaktion das sexuelle Erleben unmöglich. Zusätzliche existenzielle Sorgen (Mehrkosten oder Jobverlust durch die Erkrankung) verstärken das Problem.

Die Erkrankung schleicht sich als Dritter in die Paarbeziehung

Das soziale Umfeld, insbesondere eine gute Partnerschaft, kann für Patient:innen eine enorm wichtige Quelle der Kraft während der Krebserkrankung darstellen. Berührungen, Zärtlichkeit, Begehren und Sexualität sind ein integraler Bestandteil der meisten Partnerschaften. Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen intakten Beziehungen, Sexualität, dem eigenen Körperbild und der Lebensqualität.2 Gerade deshalb ist es wichtig, die Folgen einer beeinträchtigten Sexualität nicht zu übersehen. Für manche Menschen mit Erkrankungen ist es ein essenzielles Bedürfnis, sich selbst und einander durch Sexualität gut und lebendig spüren zu können. Hingegen können der nicht ausgesprochene Wunsch nach gelebter Sexualität, Angst vor dem möglichen Verlust, aber auch Druck, für den/die Partner:in wieder sexuell ansprechbar sein zu müssen, eine enorme Belastung darstellen.
Nicht nur im Arztgespräch, auch in der Partnerschaft fällt es den meisten Krebspatient:innen jedoch nicht leicht, sich damit auseinanderzusetzen. „Darf ich noch lustvolle Freude am (erkrankten) Körper haben?“ Versucht man jedoch, den Wunsch nach Sexualität zu ignorieren, zu tabuisieren und die Auseinandersetzung damit zu vermeiden, kann die Partnerschaft belastet werden. Die Krebserkrankung dringt, vor allem bei jüngeren Patient:innen, über den Weg der Sexualität häufig in die Partnerschaft ein.2 Es entsteht ein Schweigen aufseiten der Patient:innen und eine vermeintliche „Schonung“ aufseiten der Partner:innen – die Folge können Einsamkeit und Stillstand in der Partnerschaft sein, denn Sprachlosigkeit trennt. Im schlimmsten Fall verlieren die Patient:innen dadurch den wichtigsten Teil ihres sozialen Umfelds und eine wesentliche Stütze bei der Krankheitsbewältigung.

Keine Zeit und keine Sprache für sexuelle Gesundheit

Die zunehmende Ressourcenknappheit im klinischen Alltag führt dazu, dass sich selten im ärztlichen Behandlungsteam jemand findet, der das Thema Sexualität bei Patient:innen aktiv anspricht. Dazu kommt das mangelnde Bewusstsein vieler Ärzt:innen um das Ausmaß dieses Problems, aber auch die Tatsache, dass viele Ärzt:innen schlicht nicht wissen, wie sexuelle Funktionsstörungen am besten erfragt oder diskutiert werden. Die Patient:innen selbst finden meist nicht den Mut, „zwischen Tür und Angel“ über diese vermeintlichen „Luxusprobleme“ zu sprechen. Bei Patient:innen mit Sprachbarrieren kommt noch die Hürde hinzu, ein so „schwieriges“ Thema via Dolmetsch anzusprechen.

Aufklärung, Ausbildung, Ressourcen

Die Behandlung sexueller Funktionsstörungen setzt voraus, dass diese angesprochen werden. Mangelndes Wissen über dieses Thema gehört zu den häufigsten Ursachen, warum es von Behandler:innen nicht angesprochen wird.3 Kurze Trainingsprogramme sind effektiv, die Verwendung spezifischer Fragebögen kann bei der Kommunikation helfen.3 Die engmaschige Mitbetreuung durch Psychoonkolog:innen ist ein wesentlicher Faktor. Auch speziell ausgebildetes Pflegepersonal wie Cancer Nurses kann einen Beitrag leisten. Idealerweise sollten Patient:innen auch die Möglichkeit haben, sich an Spezialambulanzen für sexuelle Gesundheit zu wenden.
Der Erhalt der psychosozialen Gesundheit von Krebspatient:innen muss ein gesellschaftliches Anliegen sein, da eine erfolgreiche physische und psychische Krankheitsbewältigung notwendig ist, bevor Krebspatient:innen wieder ihre beruflichen und/oder sozialen Engagements übernehmen können. Dazu braucht es ausreichende Ressourcen – seien es spezifische Ausbildung, Zeitressourcen im klinischen Alltag, psychoonkologische Unterstützung, Dolmetscher:innen, Cancer Nurses oder Spezialambulanzen.

Doris Kiefhaber,
Nicole Siller



1 Katz A, Agrawal LS, Sirohi B. Sexuality after cancer as an unmet need: addressing disparities, achieving equality. Am Soc Clin Oncol Educ Book 2022 Apr; 42:1–7. DOI: 10.1200/EDBK_100032; PMID: 35658499
2 Miaja M, Platas A, Martinez-Cannon BA. Psychological impact of alterations in sexuality, fertility, and body image in young breast cancer patients and their partners. Rev Invest Clin 2017 Jul-Aug; 69(4):204–09. DOI: 10.24875/ric.17002279; PMID: 28776605
3 Williams M, Addis G. Addressing patient sexuality issues in cancer and palliative care. Br J Nurs 2021 May 27; 30(10):S24–S28. DOI: 10.12968/bjon.2021.30.10.S24; PMID: 34037445