Innovation am Beispiel tumoragnostischer Arzneimittel

Krebs ist eine komplexe und dynamische Erkrankung. Bisher wurden medikamentöse Tumortherapien vorwiegend basierend auf der feingeweblichen Untersuchung des Tumors mit Bezug zum Ursprungsorgan entwickelt. Personalisierte Onkologie führt zu einer Abkehr von der traditionellen Therapieorientierung nach der Lokalisation des Primärtumors und seiner Histologie und damit zu neuen und innovativen Therapieansätzen. Die medikamentöse Tumortherapie erlebt derzeit einen bisher einmaligen Innovationsschub. Die Basis dafür sind Fortschritte in der Grundlagenforschung, vor allem bei der Identifikation therapeutisch relevanter molekularer Veränderungen in den Tumorzellen, aber auch in der Interaktion mit Zellen des Immunsystems.

„Treibermutationen“

Entscheidend für die Entwicklung wirksamer Tumortherapien auf der Basis molekularer Veränderungen ist die Identifikation sogenannter „Treibermutationen“:
Diese bezeichnen insbesondere aktivierende Mutationen, aber auch Genfusionen, die entscheidend für die Entstehung und/oder die Ausbreitung von Krebserkrankungen sind. Viele dieser molekularen Veränderungen sind nicht spezifisch für eine bestimmte Krebserkrankung, sondern können bei sehr unterschiedlichen Krebsarten auftreten. Entsprechend können zielgerichtete, für eine bestimmte Krebserkrankung entwickelte Tumortherapien auch bei anderen Krebsarten mit identischen molekularen Veränderungen wirksam sein. Die Behandlung orientiert sich also weder an der Krebsart und dem Ursprungsorgan noch an den Gewebeeigenschaften, sondern basiert auf dem Nachweis spezifischer molekularer Veränderungen im Tumor.

Biomarker-basierte Therapie

Im September 2019 wurde erstmals eine sogenannte tumoragnostische medikamentöse Therapie in der Europäischen Union (EU) zugelassen. Die Zulassung erfolgte als Therapie zur Behandlung von erwachsenen und pädiatrischen PatientInnen mit soliden Tumoren und Nachweis einer neurotrophen Tyrosin-Rezeptor-Kinase (NTRK)-Genfusion in den Tumorzellen – und damit „tumoragnostisch“, also unabhängig von einer durch das Tumorgewebe oder den Organbezug definierten Indikation.

Während NTRK-Genfusionen in den meisten soliden Tumoren nur sehr selten vorkommen (0,5–1 %), lassen sie sich in bestimmten Tumoren wie dem Speicheldrüsenkarzinom jedoch häufig nachweisen. Der Nachweis solcher NTRK-Genfusionen erfolgt durch spezielle molekulare Analysen aus Tumorzellen. Voraussetzung für den Einsatz von medikamentösen Tumortherapien, die NTRK hemmen, ist eine lokal fortgeschrittene oder metastasierte Erkrankung, für die keine zufriedenstellenden Therapieoptionen zur Verfügung stehen. Die Ansprechraten sind hoch und die Wirkung tritt schnell ein. Die Gesamtansprechrate liegt bei ca. 72 %.

Die fundamentalen Errungenschaften der modernen Krebsforschung, die technischen Fortschritte auf dem Gebiet der Molekularbiologie, verbesserte Diagnosemethoden und die neuen Techniken der Medikamentenentwicklung gegen Krebszellen ermöglichen die Entwicklung einer maßgeschneiderten, personalisierten Krebsbehandlung und eröffnen vielen Menschen mit Krebs die Chance auf eine besser wirksame Behandlung.

Armin Gerger, Michael Micksche

Quelle: Trümper L. et al. NTRK-Inhibitoren als sog. tumoragnostische Arzneimittel. DGHO 2020

Fact-Box

Bei tumoragnostischen Krebstherapien orientiert sich die Behandlung nicht am Ursprungsorgan des Tumors oder an seinen Gewebeeigenschaften, sondern basiert auf dem Nachweis einer spezifischen molekulargenetischen Veränderung (Biomarker), die bei unterschiedlichen Tumortypen auftreten kann und deren Wachstum fördert. Die Zulassung eines Medikaments erfolgt demgemäß nicht mehr beim Brustkrebs oder Darmkrebs, sondern auf Grundlage des tumortreibenden Biomarkers.